aus „100 Jahre Moch Figuren“, Festschrift zum 100-jährigen Bestehen 2007

Der Kopf stört nur. Der Zeitgeist, diese Guillotine, macht am Hals Schluss. „Trendman 612 Headless, da ist er wieder.“ Josef Moch sagt diesen Satz beim Spaziergang über die Kölner Herrenmodemesse häufig. Der kopflose Richtungsmann, oft totgesagt, ist immer noch ein echter Renner.

Halt! Der erste Fehltritt im Reich der Bewegungslosigkeit. Trendman 612 ist weder echt noch rennt er. Das Kunstharzgeschöpf aus Josef Mochs Werkstatt tut nur so, als mache es einen Schritt vorwärts. Es bleibt stehn, wo sein Käufer es hinstellt. Bis der Polyester bricht.

Nur Ignoranten beleidigen Trendman und seine Lady als Schaufensterpuppen. Wer sie länger betrachtet, adelt sie zu „Schaufensterfiguren“. Kein Kinderkram also, sondern ein kunsthandwerkliches Produkt: von Künstlern entworfen, von Künstlern verfeinert und für den Kenner trotz Seriennummer ein Unikat. „Die hier haben wir vor Jahren geliefert“, sagt  Josef Moch und zeigt in den Messehallen auf einige erstarrte Jeans- und Pulli-Träger. „Eine Mutter kennt eben ihre Kinder.“

Mindestens 300.000 Polyestergestalten tragen in deutschen Fenstern und Verkaufsräumen zur Schau, was der Modemarkt hergibt. Etwa ein Zehntel davon stammt aus Mochs Figuren-Fabrik im Kölner Stadtteil Rodenkirchen. Als der Großvater das Unternehmen als „Düsseldorfer Plastik Moch“ 1907 gründete, gehörte es zu den vielen, die vom Boom der Kaufhäuser profitieren wollten. Die Ausstattung von „Tietz“ in Köln war 1910 der erste Großauftrag. Heute ist der Zwanzig-Personen-Betrieb der Branchenälteste in Europa, eines der wenigen Familienunternehmen, die der Billigimportwelle aus Italien und Asien standhielten. Auch Mochs Rohlinge stammen aus Südostasien, die Verfeinerung jedoch ist kölsch.

Die Globalisierung hat längst das Figuren-Kabinett erreicht

Weltkonzerne wie Zara und H & M brauchen keine Kölner Verfeinerung, sie rekrutieren für ihre jungendlichen Uniformen ein eigenes stehendes Heer. Immerhin: Verzichten wollen Zara und Co. auf die klassischen Werbeträger nicht. Warum sollten sie auch? Die Schaufensterpuppe fällt auf, gerade weil sie nicht stört. Sie schreit nicht „Geiz ist geil!“, sie verspricht  nicht „Kauf mich und du rettest den Regenwald!“. Sie verlangt nicht: „Reiß mir die Klamotten vom Leib und ich zeig dir mein Tattoo!“  Die Kunstmenschen erfüllen ihre Pflicht wie eh und je, tun ihren Dienst an der Marktwirtschaft wie zu Ludwig Erhards Zeiten. Von all dem, was neumodische Werbung umtreibt, von Sinngebung und Mein-Joghurt-Duschgel-ändert-dein-Leben-Verheißungen, wollen sie nichts wissen. „Probier’n Sie die Bluse doch bitte einmal an“, raunt Trendlady wie eine freundliche Verkäuferin, die man mit „Frollein“ ansprechen möchte.

„Wir stehen hier rum und stellen uns aus/ Wir sind Schaufensterpuppen, wir sind Schaufensterpuppen.

Wir werden beobachtet, und wir spüren unseren Puls/ Wir sind Schaufensterpuppen, wir sind Schaufensterpuppen.

Wir bewegen uns, und wir brechen das Glas/ Wir sind Schaufensterpuppen, wir sind Schaufensterpuppen.

Wir treten heraus und streifen durch die Stadt/ Wir sind Schaufensterpuppen, wir sind Schaufensterpuppen.

Wir gehen in den Klub, und wir fangen an zu tanzen/ Wir sind Schaufensterpuppen, wir sind Schaufensterpuppen.“

 

Die Gruppe Kraftwerk, selbst puppengleich

träumte auf ihrem Album „Trans Europa Express“ anno 1977 vom Aufstand der ständigen Steher. Die Revolte blieb aus, das Frollein am Platz. Standardlady zeigt Haltung, auch wenn die Passantin einfach weitergeht. Die Unerhörte  bewahrt die Contenance. Die Figur im Fenster will keine Adresse der Nicht-Käuferin, sie betreibt kein Telefonmarketing und erzwingt auch nicht das Häkchen fürs Newsletter-Abo. Wohl erzogen, wohl geraten, wohl tuend. In Zeiten, in denen jeder jedem grenzenlose Mobilität vorgaukelt, ist es schön, wenn ein schöner Mensch seinen Standort behält.

Wer die Geschichte durchstreift

erkennt, dass sich auch bei den Unbeweglichen einiges bewegt hat. Ein grauer Kopf mit anmodellierten Haaren bekommt auf Mochs Werkbank gerade die Serienreife. Rotwangigen Lächler mit Echthaarperücke wurden hingegen im Kurositätenkabinett in der Vitrine entsorgt.  Auch das füllige Wir-sind-wieder-wer-Paar mit der strapazierfähigen Baumwollunterwäsche geht nicht mehr als aktuelles Underwear-Mannequin durch. Trotz Magersucht-Debatte und Kokain-Kate-Schock: Models mit Moss-Mager-Maßen wurden noch nicht als überholt aussortiert. Sie warten in der Lackiererei auf die staubgraue oder cremefarbene Dusche aus der Airbrush-Pistole.

Für Laien geht der Anblick in der Werkstatt an die Geschmacksgrenze: Arme und Beine baumeln von der Decke, Köpfe stehen auf allen Fensterbänken, Hände stapeln sich in Kartons. „Wir haben es mit einer Massenmörderei zu tun“, schrieb Elke Heidenreich in einer Reportage für die Zeitschrift „Brigitte“. Kein Zufall, dass die Figuren ausgerechnet in einem Wagner-Drama die Idealbesetzung waren: Für „Tristan und Isolde“ lieferte der Kunstfreund Moch dem Kölner Opernhaus ein stehendes Heer strammer Business-Mannen und eine Treppe aus entbößten, bleichen Körperteilen.

Der politisch-korrekte Besucher erblasst: Ja, die leblosen Körper im Lackierraum rufen KZ-Bilder wach. Ja, beim muskulösen Idealrecken da hinten könnte Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker seinen Meißel im Spiel haben. Ja, so makellos und unerotisch wie Standard Lady und Man mag sich der Philosoph Peter Sloterdijk die Keimzelle seines Menschenparks vorgestellt haben.

Am Messestand von „Carlo Colucci“ stehen mindestens 100 Trendmen stramm, eine ganze Klonarmee. Der Künzelsauer Schneider „Mustang“ lässt die Harz-Herrn in Blue Jeans aufmarschieren. Konkurrent „Lerros“ bittet ihn im Anzug und Casual Look zum Appell. „Über Figuren denke ich gar nicht nach. Die sind einfach da“, sagt der „Mustang“-Mann. „Die Figuren dienen der Visualisierung des Outfits. Was die Leute angezogen sehen, verkauft sich besser“, reduziert die Lerros-Frau aufs kaufmännische Normalmaß. Alles nur Marktwirtschaft, nirgends Massenmörderei, Frau Heidenreich.

Einfach da sein

nicht blöd fragen, nicht nachdenken. Von Mochs Fensterbänken blickt kein einziges  Grübel-Gesicht. Standard Man und Standard lächeln sogar. Worüber sollten sie sich auch grämen? Die diskreten Diener des Zeitgeistes kennen weder Reithosensyndrom noch Bierbauch: Bei Größe 34 respektive 50 kneift kein knappes Versace-Röckchen, da zwickt kein Hugo-Hemd. Gebärfreudig gepolsterte Becken gibt es nur auf Wunsch einzelner Molly-Moden-Hersteller. Die Oberschenkel der Standard-Lady zerklüftet keine Zellulitis. Die Deutschen werden weniger, aber die wenigen werden immer dicker. Eine Gussform aus Silikon bewahrt die Doubles vor dem gleichen Schicksal.

Ihre einzige Problemzone ist der Kopf

„Das Gesicht sieht noch zu alt aus“, sagt eine Bildhauerin aus Mochs Atelier. Seit drei Tagen arbeitet sie an dem neuen Kopf für die Serie „Century Man“. Ein New Yorker Künstler hat die Rohversion des männlichen Jahrhunderthauptes entworfen. Jetzt müssen – demografische Entwicklung hin oder her –

20 Jahre runter von der Kunsthaut. Das heißt: Spachtelmasse auftragen, massieren und schleifen, bis das Gesicht die Konturen eines Mittzwanzigers annimmt. Glücklicherweise hört die Bildhauerin nicht, was der Dame von Lerros zum Erfolg eines Faceliftings einfällt: „Man sollte das Alter der Figur nicht überbewerten. Die Kleider bestimmen das Alter.“

Josef Moch kennt das Kopfzerbrechen um den Kopf. „Es ist gar nicht so leicht, ein modernes Gesicht zu entwickeln“, sagt der promovierte Chemiker, während er im Studio die Entwürfe des New Yorker Meisters mustert. Klar ist nur: Rosig-Naturalistisches im Stile der sorgsam geschminkten Standard-Familie passt nicht in angesagte Läden. Die David-Skulptur Michelangelos, nach deren Vorbild der Typ gefertigt ist, taugt zwar immer noch zum Fitness-Mahnmal. Das sanftmütige Standard-Gesicht harmoniert jedoch eher mit Lokalitäten, die wacker der Bezeichnung „Herren- und Damenoberbekleidung“ die Kleiderstange halten.

In Mode-Shops gelten andere Gesetze. Hier ist die Farbe der Haut out. Nach einer kurzen Verirrung ins Schwarz-Metallische haben sich Marmor- und Betontöne gut behauptet. Politisch bedenklich, für Testosteron-Opfer tröstlich: Glatzköpfe dürfen sein; eine weiß lackierte Kopfhaut gilt nicht als haarlos, sondern als puristisch.

Ein Lächeln sollte sich das zeitgemäße Gesicht geschlechtsübergreifend verkneifen. Kann sein, dass Mode Spaß macht. Aber die freundliche Wirtschaftswundermiene, deren Lippen  „Wohlstand für alle“ verheißen, hat ausgedient. Wenn schon ein Rückgriff in die Vergangenheit, dann eher in die Anfänge der Figurengeschichte. Im 17. Jahrhundert, verschickte die Pariser Haute Couture ihre Kreationen auf Weidenholzkörpern an die adeligen Auftraggeber. Blässliche Porzellangesichter blickten der feinen Kundschaft ins Auge.

Ernst ist exklusiv

„Ein bisschen unfreundlich gilt als cool“, hat Josef Moch herausgefunden. Abgrenzung sei das Schlüsselwort. Die jüngeren Labels  setzen deshalb auf Kreationen mit einem fast zornigen Gesicht. Die Firma S. Oliver zum Beispiel hat Berufseinsteiger im Visier, die sich nach „Boss“-Anzug fühlen, aber noch nicht wie ein Boss verdienen. Clean sollen die Figuren aussehen, das heißt, nicht nur „sauber“, sondern reich. In ihren  Augen liegt das Lebensgefühl einer hungrigen Zielgruppe, die irgendwann selbst einen einreihigen Assistenten einstellen und die Anzugmarke wechseln wird.

An Mochs Stand in den Messehallen mustern gerade zwei Dekorateure eines großen rheinischen Herrenausstatters die neueste Gesichtskreation, die speziell für sie entwickelt wurde. Etwas Multikultigerechtes sollte es sein, ansprechend für die Fans amerikanischer Baseballmannschaften und deutscher Rapper. Also bekam der Trendman – so viel Naturalismus muss sein – eine dunkle Hautfarbe, pflegeleichte Raspelhaare und einen unternehmungslustigen, aber nicht lustigen Blick. „Die Figur finde ich nicht schlecht. Nur das Gesicht ist zu weich“, sagt einer der Schaufensterprofis und drückt auf den Wangen herum, als ob sie nachgeben müssten. Kantiger müsse das Kinn werden, markanter solle der Wangenknochen hervortreten. Also wieder Spachtelmasse und Schleifpapier, wieder massieren und probieren, um dann zu hören, dass die beste Figur jene ist, die nicht auffällt. Die einfach nur da ist.

Eine Frau, Anfang 40, bleibt in der Fußgängerzone vor einem Schaufenster stehen. Sie mustert sich im blankpolierten Glas. „Ich will so bleiben wie ich bin“, trällerte früher die Protagonistin einer Du-darfst-Werbekampagne beim Blick in den flüchtigen Spiegel und eilte glücklich davon. Doch jetzt wartet hinter der Scheibe eine statuengleiche Figur auf Kundschaft. Die Frau bleibt stehen. Einen Moment lang sitzt  ihr Kopf auf dem jungen Kunstkörper. Will sie bleiben, wie sie ist? „Werde ein bisschen wie ich“, flüstert die Trendlady. Die Frau legt die Hand an die Ladentür. Ein Frolleinwunder.


über die Autorin:

Christiane Florin ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie war bis Ende 2015 Redaktionsleiterin der Beilage Christ und Welt in der Wochenzeitung Die Zeit. Sie ist Lehrbeauftragte für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2001 mit dem Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik ausgezeichnet. Heute gehört sie der Redaktion „Religion und Gesellschaft“ beim Deutschlandfunk an.